Die Gründungsurkunde - Ein Relikt aus uralten Zeiten


Die Arbeit eines Historikers erstreckt sich nicht nur auf die Interpretation von Quellen und deren Einordnung in den historischen Kontext: Am Anfang einer geschichtswissenschaftlichen Untersuchung steht die Auseinandersetzung mit der Quelle selbst, die so genannte Quellenkritik.

Hierbei unterscheidet man zwei Ansatzpunkte: Die äußere Quellenkritik befasst sich mit den formalen Gegebenheiten, die innere Quellenkritik bezieht sich auf den Inhalt. Ziel dieser Vorgehensweise ist die Prüfung der Vertrauenswürdigkeit der Quelle. Unterzieht man diese Gründungsurkunde - heute im Mainzer Stadtarchiv aufbewahrt - einer solchen Quellenkritik, wird offensichtlich, dass das Schriftstück eine nachträglich angefertigte Fälschung ist und nicht wie in der Urkunde angegeben aus dem Jahr 635 stammen kann. Einen ersten Hinweis hierfür findet man bereits im Zuge der äußeren Quellenkritik.

Besonders auffallend sind hier die ausgeprägten Formen der einzelnen Buchstaben, ein Schriftstil, der für Urkunden des 12. Jahrhunderts kennzeichnend ist, im frühen Mittelalter jedoch nicht vorkommt. Außerdem widerspricht die Schriftart dem angegebenen Ausstellungsdatum von 635. Es sind fast ausschließlich Minuskeln (Kleinbuchstaben) verwendet worden, eine Eigenart, die für Urkunden des 12. Jahrhunderts typisch, im 7. Jahrhundert jedoch noch nicht in dieser Form nachweisbar ist.

Bei der Durchführung der inneren Quellenkritik verstärkt sich der Verdacht, dass das Dokument gefälscht ist. Der in römischer Weise angegebene Tag (X. K[a]l[endas] Mai 5), der 22. April, war 635 (anno dominice incarnationis D.C.XXXV 4) kein Donnerstag (feria V 5), sondern ein Samstag. Zudem fällt das Jahr nicht das 14. Regierungsjahr eines Königs mit Namen Chlodwig (regnante Clodoveo rege serenissimo anno XIIII 3). Diese Unstimmigkeiten sprechen für eine im Nachhinein ausgestellte Urkunde. Zudem lassen sich in ihrem Inhalt weitere Argumente für eine spätere Ausstellung finden: Die Erwähnung der Stadtmauern, der Besteuerung der städtischen Bevölkerung und des städtischen Gerichts deuten auf ein späteres Ausstellungsdatum hin - im 7. Jahrhundert war ein derartiges Stadium städtischer Entwicklung in Mainz noch längst nicht erreicht. Es wird angenommen, dass die vorliegende „Gründungsurkunde“ in der ersten Hälfte des 12. Jahrhundert entstanden ist und die echte, jedoch verloren gegangene Gründungsurkunde als Vorlage diente. Abschließend stellt sich noch die Frage, warum überhaupt eine Fälschung angefertigt wurde.

Handelt es sich um eine rein formale Fälschung, oder um eine Fälschung, mit der auch inhaltliche Veränderungen einhergingen? In der Forschung wird angenommen, dass der Verfasser der gefälschten Urkunde auch den Inhalt veränderte, so dass eine rein formale Fälschung ausscheidet.

Dafür sprechen vor allem die vielen dem Kloster in der Urkunde gewährten Privilegien, um dessen rechtlichen Status zu verbessern. Als wichtigste Indizien hierfür gelten die Garantierung der freien Wahl der Äbtissin (Electionem vero abbatisse inter semet ipsas habeant 2) sowie die auf ewig festgeschriebene Schutzfunktion des Mainzer Erzbischofs gegenüber dem Kloster (Mundiburdiam et defensionem ab archiepiscopo Mogontiensis ecclesie habeant in perpetuum 1). Hierin bestand die Motivation für die vorliegende Fälschung. Man wollte die bereits im Gewohnheitsrecht existierenden, aber bisher noch nicht verbrieften Privilegien schriftlich fixieren, um die künftige Rechtslage der Klostergemeinschaft zu sichern.



Übersetzung der Urkunde


(nach: Ludwig Falck. In: Adam, Ingrid: 1300 Jahre Altmünsterkloster in Mainz. Abhandlungen und Ausstellungskatalog. Mainz 1993. S. 80-82)

Ich Bilehilt wünsche, dass bekannt werde den gegenwärtigen und zukünftigen Menschen, dass ich aus Liebe zu Gott und in der Hoffnung auf künftigen Lohn einige Teile meines Eigentums [hergegeben habe]. Ich habe nämlich ein Gelände nahe der Mauer der Stadt Mainz in [deren] westlichem [eigentlich: südlichem]Teil von dem Erzbischof Rigibert, meinem Onkel, für 12 rote aus Gold verfertigte Schilde und ebensoviele schwarze Pferde gekauft und darauf für [Gott] den Herrn und die heilige Jungfrau Maria ein Haus errichtet und dort eine gottgeweihte Vereinigung von Frauen versammelt und ihnen zu meinem und meiner Eltern [Seelen-] Heil übertragen, was mir offenkundig zu Eigen und zu Erbe gehörte an Grundstücken und Gebäuden, Wiesen, Weideland, Wäldern, Ländereien, stehenden und fließenden Gewässern, an beweglichen und unbeweglichen Gütern, bebaut und unbebaut, und an hörigen Leuten, auf dass sie [dies alles] haben und besitzen sollen bis ans Ende dieser Welt.

Die [weltlichen Grund-]Besitzer auf diesem [Kloster-] Gelände brauchen sich nicht um die Leistung von Nachtwachen in der oben genannten Stadt [Mainz] zu kümmern, brauchen nichts zu den Geldsammlungen [das heißt Geldsteuern] beizutragen, die bald an den Bischof, bald für die Ausbesserung der Stadtmauern abzuliefern sind, und brauchen auch die anderen städtischen Gewohnheiten nicht zu beobachten. Sie sollen wissen, dass sie sich nur nach dem Nutzen und dem Gehorsamsanspruch und Befehl der Äbtissin und der [Nonnen-] Gemeinschaft zu richten haben. Wenn einer von ihnen einen Totschlag, einen Diebstahl, einen Raub oder eine andere Missetat begangen oder ein auswärtiger Übeltäter, der solches verbrochen, sich auf jenes [Kloster-] Gelände geflüchtet hat, soll er nicht vor dem Gericht der städtischen Richter oder Stadtvorsteher zur Verurteilung erscheinen, sondern vor dem Gericht der Vorsteher des Klosters. Munt und Schutz sollen sie auf ewig vom Erzbischof der Mainzer Kirche erhalten. Die Wahl der Äbtissin sollen die Frauen allein unter sich ausmachen, keine Witwe oder eine andere Auswärtige sollen sie [als Äbtissin] annehmen, wenn sie nicht [schon vorher] unter ihnen gelebt hat [„genährt wurde“].Und wenn [irgend] ein Bischof aus kühner Rücksichtslosigkeit gegen die urkundliche Festlegung dieser Bedingung verstoßen möchte, soll er den Zorn des allmächtigen Gottes und aller Heiligen verspüren und seine Absicht ganz und gar nicht ausführen können.

Vielmehr soll diese Schenkungsurkunde für alle Zeit gesichert und gefestigt bleiben, wie vereinbart worden ist. Und noch eines: Wenn eine Witwe oder eine Auswärtige diesen Klosterfrauen ohne deren Einverständnis vorgesetzt werden sollte, dann soll sie der schlimmsten Art von Lepra verfallen und danach zum schändlichsten Tode verurteilt zugrunde gehen und hier [auf Erden] keinen Platz zur Verwesung finden.

Geschehen in der vorgenannten Stadt während der Regierung des erhabenen Königs Chlodowech im Jahre der Fleischwerdung des Herrn 635, in der 10. Indiktion, am 10. Tag vor den Kalenden des Mai, am fünften Wochentag, vor den im Folgenden verzeichneten Zeugen: Zeichen der Bilihild, die diese Schenkung vollzog. Z[eichen] des Bischofs Gerold. Z[eichen] des Diakons Ruotbert. Z[eichen] des Rocholf. Z[eichen] des Grafen Adalhelm. Z[eichen] des Grimolf. Z[eichen] des Hagano. Z[eichen] des Hiltwin. Z[eichen] der Mimihild. Z[eichen] der Reginhild. Z[eichen] Liobolf. Z[eichen] des Grimolf. Ich Asmund habe auf Befehl meines Herren, des Erzbischofs Rigibert [diese Urkunde] geschrieben und Tag und Zeit notiert.



Anfänge des Altmünsterklosters


Wann und durch wen wurde das Kloster gegründet? Woher stammt der Name?

Als Gründerin des Klosters wird die aus adligem Haus stammende Bilehilt (später latinisiert: Bilhildis) angesehen. Über Leben und Wirken gibt es kaum gesicherte Angaben, geboren wurde sie wohl um das Jahr 700 in „Höchheim“, worunter entweder das bei Wiesbaden gelegene Hochheim/Main oder Veitshöchheim bzw. Margetshöchheim bei Würzburg gemeint ist. Wahrscheinlich wurde sie 718 mit dem thüringischen Adligen Hetan II. verheiratet, welcher jedoch bereits im Jahre 719 auf dem Schlachtfeld fiel. Die schwangere Bilhildis kam zu ihrem Onkel, dem Bischof Rigibert von Mainz. Nach dem frühen Tod ihres Kindes gründete sie auf Anraten und mit Unterstützung Rigiberts in der Nähe der Mainzer Stadtmauer eine Marienkirche und siedelte sich dort mit einer Gruppe religiöser Frauen an, aus der sich nach und nach eine klösterliche Gemeinschaft entwickelte. Schon zu Zeiten Bilhildis’ soll es eine Kranken- und Armenfürsorge seitens der religiösen Gemeinschaft in Mainz gegeben haben, heutzutage wird Bilhildis in der katholischen Kirche als Patronin der Kranken angesehen. In Mainz wird sie seit dem 9./10. Jahrhundert als Heilige verehrt. Die Fertigstellung des klösterlichen Komplexes hat wahrscheinlich mehrere Jahre in Anspruch genommen - die Beurkundung des Gründungsvorgangs fiel aller Ansicht nach schon in die Amtszeit Bischof Gerolds, dem Nachfolger Rigiberts.

Der genaue Gründungstermin ist umstritten, die beiden wichtigsten Quellen hierfür, eine im Hochmittelalter entstandene Vita der Heiligen Bilhildis, sowie die im Mainzer Stadtarchiv liegende Gründungsurkunde liefern kein historisch verifizierbares Datum.

Erstmals eindeutig belegt ist die Existenz des Altmünsterklosters im Jahre 817. In einer Urkunde wird es als „monasterium, quod dicitur antiquum“ (Kloster, das als alt bezeichnet wird) erwähnt. Man kann allerdings davon ausgehen, dass das Kloster bereits im 8. Jahrhundert existierte. Der Name Münster wird vom lateinischen monasterium abgeleitet und bedeutet Kloster. Seit dem Beginn des 9. Jahrhunderts wurde das Kloster im Volksmund das „alte Kloster“ = „alte munistar“ genannt, in Abgrenzung zum neuerbauten Albanskloster. Der Name „Altmünsterkloster“ ergibt somit eine Dopplung. Ab 1106 wurde die deutsche Namensform „Altenmônstre“ als Bezeichnung gebraucht.



Geschichte und ehemaliges Klostergebiet


Wie und wohin entwickelte sich das Kloster im Laufe der Zeit?

Ursprünglich lag Altmünster 100 m weiter nördlich als die heutige Gemeinde, zwischen Binger Straße, Münsterstraße, Bilhildis- und Zaybachstraße (heute Hintere Bleiche). Es gilt als eines der ältesten (Frauen-)Klöster in Mainz. Welcher Lebensregel die Nonnen nach den Gründungsjahren folgten, lässt sich nicht mehr rekonstruieren. Für die Zeit bis ins 13. Jahrhundert finden sich Hinweise, die eine Befolgung der Benediktsregel nahelegen. Andere Quellen wiederum deuten darauf hin, dass sich das Altmünsterkloster zu einem Frauenstift (eine religiöse Lebensgemeinschaft, in der die Frauen keine persönliche Armut gelobten) entwickelt hatte. Dies geht vor allem aus den erbitterten Konflikten hervor, die der Wechsel zur zisterziensischen Lebensform mit sich brachte. 1234 wollte der Mainzer Erzbischof Siegfried III. v. Eppstein die Klausur (die Nonnen dürfen den Klosterbezirk nicht verlassen) im Altmünsterkloster einführen. Die Klausur war fester Bestandteil der Regula Benedicti, in Frauenstiften jedoch unüblich. Nach heftigen Auseinandersetzungen (es wurden teilweise Nonnen inhaftiert) und einem Gesuch an den Papst nahm der Zisterzienserorden 1243 schließlich das Altmünsterkloster auf und es wurde dem Kloster Eberbach als Tochterkloster, als „filia specialis“, unterstellt.

Nach dem Ordenswechsel zu den Zisterzienserinnen entwickelte sich das bereits recht wohlhabende Kloster rapide weiter. Der Reichtum des Klosters widersprach dabei nicht dem Armutsideal des Mönchtums, denn das bezog sich nur auf die persönliche Besitzlosigkeit. Das Kloster als landwirtschaftliches Unternehmen durfte hingegen Gewinne erwirtschaften. Diese waren jedoch nicht nur agrikultureller Art, sondern es fanden sich auch reichlich Einnahmen aus den von Rom gewährten „Ablasstagen“. Das führte zur Vermehrung des Besitzes innerhalb des Stadtgebiets: Altmünster erstand Häuser, Felder, Gärten und Weinberge durch Stiftung oder Zukauf. 1657 besaß das Kloster bereits 51 Morgen (entspricht ungefähr 15 Hektar). Im Zuge der Reformation wurden die Landesherren protestantisch, was zum Verlust von Gütern und Zehnten führte, da Altmünster über weiten Streubesitz in verschiedenen Territorien verfügte.

Dem Kloster stand eine schwere Zeit bevor. Der Landbesitz brachte teilweise - bedingt durch Witterung und Kriegshandlungen - Schulden ein. 1521 hatte der brandenburgische Markgraf Albrecht die Stadt Mainz eingenommen und ließ alle Klöster inventarisieren, um Güter zu entfremden, was Altmünster einen weiteren Schlag versetzte.

Bis zum Jahr 1569 hatte sich die wirtschaftliche Lage gravierend verschlimmert, so dass Kurfürst Wolfgang von Dalberg zur Unterstützung und Stabilisierung eine Kommission einsetzte.

In der Spätfolge des Dreißigjährigen Krieges wurde Altmünster abgerissen. Der Mainzer Kurfürst Johann Philipp von Schönborn ließ neue Festungswerke bauen, für welche das Altmünsterkloster im Wege war. Es wurde beschlossen, das Kloster aufzulösen und die Nonnen in das benachbarte Weißfrauenkloster zu bringen. Die Äbtissin kämpfte jedoch für ihr Kloster. Es sollte auf einem Platz, der etwas näher der Stadt gelegen war, wieder aufgebaut werden. Dafür bekam der Konvent vom Erzbischof 1000 Gulden und Baumaterial für den Wiederaufbau. Daraufhin erfolgten 1656 gleichzeitig der Abriss des alten und die Grundsteinlegung des neuen Klosters. Von 1656-1662 wurde die Klosterkirche „Beatae Mariae Virginis“ auf dem neuen Gelände errichtet. Etwas mehr als hundert Jahre später, 1781, löste Kurfürst Friedrich Karl Joseph von Erthal das Zisterzienserinnenkloster nun endgültig auf. Die Besitztümer wurden von der „Commision electoralis“ verwaltet, indem sie sich um Verkauf, Verpachtung und Vermietung von Häusern und Wohnungen sowie den Verkauf der Gold- und Silberschätze kümmerte. Mit der Begründung, dass die Lehrtätigkeit an der Universität Aufgabe der Klöster gewesen war, floss der Erlös in den Universitätsfond. Die Klöster mussten deshalb auch zur Finanzierung der Universität beitragen. Die Nonnen wurden allesamt Pensionärinnen des Universitätsfonds. 1785 erfolgte im Zuge der Profanierung die Entweihung der Kirche und die Aushebung der Gräber. Ursprünglich sollte das Kloster nun der Universität als Bibliothek dienen, wurde jedoch von 1784-1792 als Accouchement der Mainzer Universität (Entbindungsanstalt mit Hebammenschule) und ab 1787 zusätzlich als chemisches Laboratorium und für die Anatomie genutzt. Im Jahr 1802 erfolgte durch das „Kultusgesetz“ Napoleons die Wiedereinführung der christlichen Religion in Mainz und Altmünster wurde zur ersten evangelischen Predigtstätte. Dennoch blieben Kirche wie Kloster noch bis 1895 Garnisonslazarett. Das Kloster wurde 1895 jedoch abgerissen, die Kirche wurde als Garnisonskirche wiederhergestellt und schließlich 1929 von der Evangelischen Gemeinde Mainz gekauft.



Der Grundriss des Altmünsterklosters


Die Stadt in der Stadt – rekonstruierbar durch Archivfunde?

Klosterplan und Auszug aus der Legende:

Grundtriß deß Jungfräulichen Gotteshauß zu Altenmünster, gantz Bezirck mit denen fundamendt mauern gemessen und zwar mit der 16 schuigen ruthen so dan 160 ruthen zu einem morgen berechnet

A Ist Weinberg der so genandte kestrich mit den mauern und gäng

B die mühl sambt hinter hof und wasser betth

C haus stall und hof des zeittlichen Wein garths mann

D fundamendt satz hinter der Kirche sambt garthen

E der Gang zwischen den Mauern umb Kirch und Closter

F die Kirch

G Eingang des Closters, der Vorhof

H aas Closter gebäw, Convent und Küche

I der Creutzgang umb den garthen

K der garthen im Creutzgang

L das gebäw worin die Abtey

M das backhäus

N Ein holtz haus

O der hof des Closters

P der backhausgarthen wo in der backofen und lusthaus sambt an der gassen stehenterbrauern angemerckt

Q gegen dem garthen über der gaßen Closter scheuer heußlin im hof und garthen

R Die Schaffenerey

S Kelterhaus

T die Scheuerm

V die Pferths ställ

W holtz schoper und schwin ställ

X Milchhaus gesindt haus und Kuhställ

Y Schaffenerey hof

Z der garthen

TZ der baumgarthen




Reliquienverehrung


Weltliche Verbindung ins Jenseits?

Bei Reliquien (lat. reliquiae: das Zurückgebliebene, der Überrest) handelt es sich im christlichen Kontext um „Überreste“ von gestorbenen Heiligen. Es wird zwischen Primärreliquien (Gebeine von Personen) und Sekundärreliquien (Lebensutensilien und Berührungsstücke der Heiligen) unterschieden. Von Reliquienverehrung im Christentum kann seit dem 4. Jahrhundert gesprochen werden. Sie ist durch die Verehrung der Märtyrer des frühen Christentums bestimmt sowie durch das Errichten von Klöstern auf den Gräbern von Heiligen. Dahinter steckt die Vorstellung, dass zwischen den irdischen leiblichen Überresten und der im Himmel befindlichen Seele noch eine Verbindung besteht. Durch eine Berührung der Reliquie konnte man an der himmlischen Kraft der Seele teilhaftig werden. Man versprach sich von einer Wallfahrt zu Reliquien entsprechende Vorteile, z.B. die Heilung einer Krankheit. Damit die Reliquien stets gegenwärtig sein konnten, wurden Gebeine häufig durch eine Translation (Überführung von Reliquien) in Kirchen gebracht und dort im oder beim Altar aufbewahrt. Damit möglichst viele Menschen an der Kraft der Reliquie teilhaben konnten, wurden diese häufig geteilt. In der mittelalterlichen Frömmigkeit waren Wallfahrten und Reliquienverehrung sehr eng mit der Ablasspraxis verbunden. Im 19. Jahrhundert erfuhr die Reliquienverehrung noch einmal eine intensive Erneuerung.



Das Schweißtuch Christi und der Schädel der Heiligen Bilhildis


Magnete für Gläubige über das Mittelalter hinaus?

Auch im Altmünsterkloster zu Mainz gab es Reliquien. Das Schweißtuch Christi ist zunächst „nur“ eine Sekundärreliquie, gewinnt aber durch die direkte Verbindung zu Christus als eine Herrenreliquie (eine Reliquie, die in enger Verbindung mit dem Leben Jesu steht) ungemein an Bedeutung. Es soll der hl. Bilhildis von der fränkischen Fürstin Imnechilde geschenkt worden sein und war demnach seit den Anfangsjahren des Klosters in dessen Besitz. Dieses Schweißtuch Christi wird mit dem Schweißtuch identifiziert, das die Jünger dem Johannesevangelium nach in der Grabstätte Jesu fanden (Joh 20, 7). Wahrscheinlich handelt es sich bei dem Tuch wohl um das Totenhemd oder ein Bahrtuch der Bilhildis. Das Schweißtuch wurde von Bilhildis in zwei Teile zerteilt. Einen Teil, der zunächst im Dom verwahrt wurde und dann vermutlich nach Aschaffenburg kam, schenkte sie ihrem Onkel Bischof Rigibert von Mainz. Der andere verblieb in Altmünster und wurde in eine schützende mit Stickereien verzierte Tasche eingenäht. Bis ins 19. Jahrhundert erfuhr das Schweißtuch Christi eine starke Verehrung. Es gab einen eigenen Wallfahrtstag (Ostermontag, der Tag an dem die Apostel das Schweißtuch fanden) und für seine Verehrung konnten Ablässe von bis zu 100 Tagen gewährt werden. Im 15. Jahrhundert war der Ansturm Gläubiger bei Wallfahrten so groß, dass der Segen für die Wallfahrt zur Reliquie vom Turm der Altmünsterkirche den versammelten Volksmassen erteilt wurde. Das Schweißtuch blieb bis zur Auflösung des Altmünsterklosters 1781 in dessen Besitz. Anschließend gelangte es auf Umwegen in den Besitz von sieben Mainzer Bürgern und dem Pfarrer der Emmeranskirche. Trotz dieser Umsiedlung gingen die Wallfahrten weiter. Im Zweiten Weltkrieg wurde die Emmeranskirche zerstört und 1945, bei deren Umbau, wurde der Reliquienaltar samt Schweißtuch stark beschädigt. Unter Fortführung der Wallfahrten kamen die Überreste und das Schweißtuch in das Mainzer Karmeliterkloster, anschließend in die Peterskirche und gelangte von dort aus in das Magazin des Bischöflichen Dom- und Diözesanmuseums in Mainz. Heute befindet sich das Schweißtuch in der nicht öffentlich zugänglichen Ostkrypta des Mainzer Domes. Lediglich an Allerheiligen ist es möglich, die Reliquie in ihrem Schrein zu sehen. Wallfahrten finden heute allerdings nicht mehr statt. Da es sich bei der Klostergründerin Bilhildis um eine Heilige handelt, verwundert es nicht, dass auch von ihr Reliquien verwahrt und verehrt wurden. So befand sich das Bilhidisgrab in der ursprünglichen Klosterkirche. Des Weiteren besaß das Kloster zahlreiche Bilhildis-Reliquien, einen Bilhildis-Altar und eine nicht mehr erhaltene Bilhildisbüste, die als Reliquiar für ihren Schädel diente. Mit solchen, oftmals sehr prunkvollen Reliquiaren versuchte man, den kostbaren Reliquien ein angemessenes Gefäß zur Aufbewahrung zu geben. Heute befindet sich ein Teil des Schädels der Bilhildis (es sind nur noch der Hirnschädel und einige Zähne erhalten) im Sammelreliquiar des Mainzer Doms. Bei einer 1990 durchgeführten Untersuchung der Schädelfragmente konnte festgestellt werden, dass es sich um einen weiblichen Schädel handelt. Darüber hinaus konnte mittels der 14C-Methode das Alter auf etwa 1200 Jahre, was in die Zeit der Gründung des Altmünsterklosters fällt, bestimmt werden.