„Anregung zu edlem Tun und wohltätigem Wirken ist stets in unserem Gotteshause gegeben worden, so dass Segensströme wahrer Liebe hier entsprungen sind.“
– Rabbiner Siegmund Salfeld



Das neuzeitliche Judenviertel

Wo und unter welchen Umständen lebten die Mainzer Juden in der Neuzeit?

Schon seit dem Mittelalter war Mainz als eine der SCHUM-Städte neben Worms und Speyer eines der bedeutendsten jüdischen Zentren. Die in Mainz lebenden Juden ließen sich in dieser Zeit vor allem im Bereich Schusterstraße-Flachsmarkt nieder. Bis 1662 durften die Mainzer Juden in der ganzen Stadt verteilt wohnen, ohne auf ein bestimmtes Gebiet eingegrenzt gewesen zu sein. Dies änderte sich jedoch mit den beiden Verordnungen des Kurfürsten Johann Philipp von Schönborn von 1662 und 1671. Diese beschränkten die Anzahl der zugelassenen Schutzjuden zunächst auf 20, dann auf 10 Familien. Diese Zahl war jedoch schon 1687 weit überschritten. Die neuzeitliche jüdische Gemeinde bewohnte unter angespannten räumlichen und hygienischen Verhältnissen zwei dicht bebaute Gassen, die teilweise mit Toren zu verschließen waren. Die kurfürstlichen Verordnungen erlegten den Juden zudem strenge Erwerbs- und Handelsbeschränkungen auf. Trotz aufklärerischer Maßnahmen einiger Mainzer Kurfürsten Ende des 18. Jahrhunderts wurde das neuzeitliche Ghetto erst durch die Franzosen 1798 endgültig aufgehoben. Der damit verbundene Fall der sozialen und wirtschaftlichen Beschränkungen führte zu einem gesellschaftlichen Aufstieg der Mainzer Juden, die von nun an überall in der Stadt wohnen und arbeiten durften. Dennoch blieben auch nach der Aufhebung des Ghettos und dem Zuzug christlicher Einwohner viele Juden trotz der beengten Wohnverhältnisse und hygienischen Schwierigkeiten in den Judengassen. Das Judenviertel mit seinen Gebäuden wurde wie die ehemalige Hauptsynagoge durch den Bombenangriff 1945 auf Mainz vollständig zerstört. Die Judenwache wurde Ende des 17. Jahrhunderts am Ende der Hinteren Judengasse errichtet. Durch die Aufhebung des Ghettos verlor sie ihre ursprüngliche Funktion, wurde jedoch bis zu ihrem Abriss in den 1860er Jahren von österreichischen Soldaten genutzt. Heute sind der Grundriss der Judenwache und der Verlauf der Hinteren Judengasse im Straßenpflaster nachgezeichnet.



Die Synagoge in der vorderen Synagogenstraße

Welche Synagoge stand hier? Wer erbaute sie? Bis wann wurde sie genutzt?

1684 wurde mit der Synagoge in der damaligen Margaretengasse das erste Gotteshaus auf dem Grund des Jüdischen Viertels errichtet. Die zahlreichen Vorgänger hatten sich außerhalb des Viertels befunden. Das einem bürgerlichen Wohnhaus ähnelnde Gebäude besaß neben Bet- und Gemeinderäumen auch Wohnungen und eine Mikwe, das jüdische Ritualbad. Trotz Erweiterung 1717 wurde die Synagoge der Gemeinde bald zu klein. Ihr desolater Zustand machte einen Neubau notwendig, so dass sie 1846 abgerissen wurde. Die neue Synagoge sollte dem gestiegenen Status der jüdischen Bürger Rechnung tragen: Der Regierungs- und Dombaumeister Ignaz Opfermann entwarf einen prächtigen Bau im maurischen Stil, der am 11. März 1853 feierlich eingeweiht wurde. Über der Pforte, die man über eine breite Treppe erreichte, waren die Tafeln mit den Zehn Geboten angebracht. Im Inneren schmückten rundbogige Arkaden, reiche Ausmalungen, hebräische Schriftzüge und der prachtvolle Toraschrein den Raum. Deutschlandweit war es die erste Synagoge mit einer Orgel. Bis zur Jahrhundertwende war die Gemeinde stark angewachsen, was die Hauptsynagoge an den Rand ihrer Kapazitäten brachte. Die Auflösung des Jüdischen Viertels ließ den Ort nicht mehr repräsentativ erscheinen. So entschloss man sich wiederum zu einem Neubau, dort, wo auch die heutige Synagoge steht. Nach ihrer Aufgabe 1912 wurde die alte Hauptsynagoge von der Stadt Mainz zur Lagerhalle umfunktioniert. Dennoch wurde sie in der Reichspogromnacht geschändet und 1942 durch den schweren Bombenangriff zerstört.



Uneinigkeiten innerhalb der Gemeinde

Was geschah mit der jüdischen Gemeinde nach dem Bau der Synagoge von 1853?
Warum entstand eine orthodoxe Synagoge?

Neben der Israelitischen Religionsgemeinde gab es in Mainz ab 1848 auch die Israelitische Religionsgesellschaft. Diese Gruppierung hatte sich im Zuge des Neubaus der Hauptsynagoge vom Rest der Gemeinde abgespalten, da sie den geplanten Reformen kritisch gegenüberstand. Die Entscheidung zur Einrichtung einer Orgel in der Synagoge lehnte sie ebenso ab, wie das Vorhaben, den Gottesdienst in deutscher Sprache abzuhalten. All dies bedeutete für sie eine zu starke Aufgabe des jüdischen Ritus, die zum einen aus Angleichung an christliche Gottesdienstformen, zum anderen aus Identitätsverlust durch die teilweise Aufgabe des Hebräischen bestand. Dennoch bildeten Religionsgesellschaft und Religionsgemeinde nach außen weiterhin eine Körperschaft. Für ihren Gottesdienst wählte die „orthodoxe“ Gemeinde, die zunächst aus etwa 70, später aus 150 Mitgliedern bestand, zunächst ein Privathaus, dann ein Gasthaus. Schon 1856, nur drei Jahre nach der Hauptsynagoge, wurde eine eigene Synagoge in unmittelbarer Nähe eröffnet. Auf dem Eckgrundstück Flachsmarktstraße/Margaretengasse, am Platz der heutigen Rheinland-Pfalz Bank, entstand ein einfacher Saalbau, der allerdings bald Schäden aufwies.

Mit den Umbauplanungen betraute man 1877 den Stadtbaumeister Eduard Kreyßig. Die Synagoge, die innen und außen mit reichen Ornamenten im maurischen Stil verziert war und 300 Gläubige aufnehmen konnte, wurde 1879 eingeweiht. Eine gute Vorstellung von ihrem Aussehen kann man heute gewinnen, wenn man die jüdische Friedhofshalle auf dem Mainzer Hauptfriedhof betrachtet, denn auch sie stammt von Eduard Kreyßig und aus etwa derselben Zeit. Bis zur Jahrhundertwende zählte die Religionsgesellschaft 450 Mitglieder.

Außer der Hauptsynagoge wurde auch die orthodoxe Synagoge am 9. November 1938 mit einem Brandsatz angezündet. NS-Anhänger zerstörten das Innere, Torarollen und Silber wurden zur Gestapo transportiert. Die Ruine wurde 1939 oder 1940 abgerissen. Heute erinnert eine Gedenktafel am ehemaligen Standort an das Gebäude.



Synagoge, Ritualstätte und Gemeindeleben

Wie sah das Leben in der Gemeinde aus?
Welche Einrichtungen braucht eine jüdische Gemeinde?
Was ist eine Synagoge?

Das jüdische Viertel der Stadt Mainz bildete mit seinen engen, dicht bewohnten Gassen eine selbstständige Gemeinde mit eigener Infrastruktur, deren Mittelpunkt die Synagoge darstellte. Diese war nicht nur Gebetsort, sondern auch soziales Zentrum. Unter ihrem Dach fanden sich neben den Gebetsräumen auch Unterrichtsräume für die religiöse Lehre und bis 1811 das rituelle Kaltwasserbad, die sogenannte „Mikwe“. Darüber hinaus beherbergte sie die „Gemeinden Stube“, die für Sitzungen des Gemeindevorstandes genutzt wurde und Wohnungen für Gemeindebedienstete enthielt. Vermutlich diente die Synagoge zudem als Hochzeits- und Tanzhaus und war damit neben den Schänken ein Ort der Geselligkeit. Als weitere öffentliche Einrichtungen innerhalb des Viertels sind das Spital und die wegen der besonderen jüdischen Speisevorschriften nötigen Schlacht- und Backhäuser zu nennen sowie ein öffentliches Reinigungsbad. Geprägt wurde das öffentliche Leben vor allem vom Gemeindevorstand und dem Rabbiner als Vorsitzenden, aber auch von einer Reihe gemeinnütziger Vereine. Diese hatten sich als Reaktion auf die schlechte wirtschaftliche Lage vieler Gemeindemitglieder gegründet, versahen als „Beerdigungsverein“, „Krankenpflegeverein“ oder „Heizungs-Unterstützungsverein“ soziale Aufgaben und sammelten Geld für Bedürftige. Auch im Schulwesen waren diese Vereine ab 1751 engagiert, bis schließlich neben den im Viertel vorhandenen Religions- und Hebräisch-Schulen 1814 eine moderne Schule gegründet wurde, die bis 1833 bestand.



Erforschung der jüdischen Geschichte von Mainz

Wer erforscht die Geschichte der Mainzer Juden? Was ist „Judaistik“?

Der letzte Rabbiner, der in der Hauptsynagoge predigte, war Prof. Dr. Siegmund Salfeld (1843-1926). Im Jahr 1880 von der liberalen Israelitischen Religionsgemeinde nach Mainz berufen, übte er dieses Amt bis zu seinem Ruhestand am 9. März 1918 aus. Neben seiner Tätigkeit als Rabbiner leistete Siegmund Salfeld durch seine historischen Arbeiten einen wichtigen Beitrag zur Erforschung der jüdischen Geschichte der Stadt Mainz. Für seine Verdienste als Historiker und sein Engagement für die Mainzer Stadtgeschichte bekam Salfeld 1912 den Professorentitel verliehen. Während seiner Amtszeit wurde im selben Jahr in der ehemaligen Hindenburgstraße eine neue Hauptsynagoge gebaut, die der angewachsenen jüdischen Gemeinde genügend Platz bot. Auch sein Nachfolger Dr. Sali Levi (1883-1941), Rabbiner der Israelitischen Religionsgemeinde von 1918 bis 1941, machte sich außerordentlich um die Erforschung der Mainzer jüdischen Geschichte verdient. Durch sein Wirken entstanden die Denkmalstätte am Alten Israelitischen Friedhof von Mainz sowie das „Museum jüdischer Altertümer“, das bei der neuen Hauptsynagoge am Synagogenplatz seinen Platz fand. Bis heute sind die Veröffentlichungen dieser engagierten Gelehrten von hohem Wert, da sie teilweise nicht mehr zugängliche Quellen beinhalten. Sie konnten auf Quellen des jüdischen Gemeindearchivs zurückgreifen, die leider der späteren Zerstörung durch Krieg und Verfolgung zum Opfer gefallen sind. Heute ist an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz das Fach Judaistik, d.h. die Erforschung jüdischer Religion, Geschichte, Kultur und Literatur, an der Evangelisch-Theologischen Fakultät fest installiert. Dort hat auch die alte jüdische Gemeindebibliothek mit ihren wichtigen Beiträgen für die Wissenschaft ihren Platz gefunden.



Das Erbe des jüdischen Viertels

Was geschah mit dem zerstörten Judenviertel?
Was bedeutet „kulturelles Erbe“?

Die Neubauprojekte auf dem historischen Grund der Innenstadt eröffnen einen Blick in die Vergangenheit: Wird ein Fundament ausgehoben, treten oftmals Spuren der alten Bebauung zutage. Mauerreste, alte Keller oder gar einzelne Gegenstände können viel über die Geschichte ihres Fundortes erzählen, etwa wie Lebens- und Bauverhältnisse waren, wie die Wasserversorgung funktionierte oder wem welches Haus gehörte. Archäologen und Denkmalpfleger können diese Ausgrabungen zum Sprechen bringen, indem sie ihr Alter bestimmen, herausfinden, welche Teile zueinandergehören, Grundrisse mit alten Stadtplänen und Adressbüchern abgleichen. Für die Rekonstruktion der Geschichte einer alten Stadt wie Mainz ist ihre Arbeit unverzichtbar. 1992 wurde mit den Bauarbeiten für das neue Gebäude der Landesbausparkasse Rheinland-Pfalz ein neues Kapitel aufgeschlagen. Mit dem Wissen, dass sich hier das jüdische Viertel und die alte Synagoge befunden hatten, entschloss man sich zur archäologischen Untersuchung des Untergrunds. Dabei wurden zwei Keller aus der ehemaligen Hinteren Synagogenstraße gefunden, die schräg hinter der Synagoge gelegen hatten sowie ein alter Brunnen und eine steinerne Turmspitze der Synagoge. Dieses Erbe sichtbar zu machen und damit die Erinnerung an das jüdische Mainz zu bewahren, verstand und versteht die LBS als ihren Auftrag. So betont der ehemalige Geschäftsführer der LBS Anton Issel die Beziehung des Unternehmens zum Ort: „Mit einem gewissen Stolz verwalten und pflegen wir diese Dinge und rücken sie ins richtige Licht.“ Der Brunnen und die Turmspitze haben ihren Platz im Innenhof der LBS gefunden. Beim Gang um das Gebäude kann man den früheren Straßenverlauf, die Judenwache und das Portal der alten Synagoge entdecken. Aus dem Bekenntnis zur Geschichte des Ortes ergibt sich eine beispielhafte Symbiose zwischen Vergangenheit und Gegenwart.